DER MALORT - BROSCHÜRE ZUM MODELL-PROJEKT "SCHREIB.MAL.SPIEL"
- fraukemalort
- 4. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Okt.

Enfach malen
Ohne mich dir erklären zu müssen, ohne dich über meine Bilder reden zu hören,
ohne mich vor dir zu rechtfertigen, ohne dir Ergebnisse vorzeigen zu müssen,
ohne deinen Wunsch zu spüren, anderen von mir etwas vorzuführen.
Und mit allem, was ich ausdrücke, willkommen sein. So möchte ich malen.

„Der Malort ist ein Ort, an dem Menschen jeden Alters zusammenkommen.
Er ist ein geschützter Raum. Zwischen 10 und 15 Personen sind gleichzeitig anwesend.
Es herrscht ein Kommen und Gehen zwischen dem Tisch, wo man den Pinsel eintauchen
kann und dem Blatt an der Wand, auf dem jeder seine Spur hinterlässt, ganz nach Belieben. Dieses Tun heißt Malspiel. Denn was diese Spur auszeichnet, die im Malort entsteht, ist, dass sie kein Werk ist, sondern ein Spiel, das abläuft und eine bestimmte Dauer hat. Eine Malstunde dauert 90 Minuten. Und während dieser Zeit spielt das Kind und genießt seine Spur, absichtslos und ohne Spekulation auf eine Wirkung. Es schafft kein Werk, das nachher angeschaut wird, sondern erlebt einfach nur, was sich im Raum seines Blattes abspielt...um den Moment zu genießen.“
Arno Stern

Menschen von zwei bis neunzig Jahren
Je vielfältiger und verschiedener die Menschen im Malraum sind, desto größer sind die Möglichkeiten, das Eigene verlässlich hervorzubringen; nämlich dann, wenn Vergleich, Notendruck und Wettbewerb wegfallen.
Kinder und Erwachsene profitieren voneinander und genießen die gemeinsame Zeit.
Die große Person lässt sich vielleicht von der Unbefangenheit des Zweijährigen anstecken und kehrt mit einem Lächeln statt mit ernster Miene zu ihrem Blatt zurück. Das Kind erlebt sich womöglich als gleichwertig, denn Erwachsene tun hier dasselbe wie es selbst, und sie tun es nicht aus „pädagogischen“ Gründen, sondern für sich selbst.

Das Malspiel - Wo Konzentration von selbst entsteht
Im Malspiel bekommen die Kinder Raum, zu sich selbst (zurück) zu kommen.
Unterhaltungen entstehen und verebben wieder.
Ich sorge dafür, dass dabei niemand über die Bilder spricht.
Das wird mit der Zeit selbstverständlich und scheint den Malenden angenehm zu sein.
Stille geht von Einzelnen aus und erfasst immer wieder auch die ganze Gruppe.
Ein Junge der Dienstags-Stunde bemerkte beim Eintreten immer wieder: „Es ist so still hier!“
LehrerInnen und Eltern erzählen uns, dass die Kinder oft entspannt, gelöst oder gut gelaunt vom Malort zurück in die Schule oder nach Hause kommen.
Da ist etwas in uns drin, auf das wir immer wieder zurückgreifen können. Wenn wir an diese Quelle im Innern anknüpfen, dann entsteht Konzentration nebenbei.
Die Bedingungen im Malort ermöglichen genau diesen natürlichen Ablauf.
Arno Stern ist in der Welt gereist und hat festgestellt, dass die Kinder überall dieselben Dinge malen, sobald sie auf dem Blatt spielen dürfen. Dieser Schatz – er nennt ihn „Formulation“ – ist uns jederzeit (wieder) zugänglich.

Was hat denn Malen mit Spielen zu tun?
Wenn wir Kinder beim Malen nicht unterbrechen und nicht über das Gemalte sprechen, malen sie selbstvergessen und versinken in ihre Tätigkeit: sie spielen.
Betrachten wir sie als Künstler, müssen sie sich darum bemühen, etwas Besonderes zu sein, sie verlieren ihre Spontaneität.

Ablauf der Malstunde
Die wenigen Spielregeln im Malort müssen nicht erklärt werden, sie ergeben sich aus dem Spiel heraus. Sie strukturieren das Malspiel und ermöglichen (erst), dass sich alle vertrauensvoll entfalten können.
Mit dem Anziehen des Kittels und dem Betreten des geschützten Malraums beginnt das Malspiel. Hier haben nur die Malenden unterschiedlichen Alters zutritt, keine Zuschauer.
Sie werden von äußeren Einflüssen wie Bewertung oder Vergleich abgeschirmt. Ihre Bilder werden dauerhaft für sie aufbewahrt. Im Malort sorgt außerdem die „dienende Person“ für eine wertschätzende, förderliche Atmosphäre.
Jeder Eintretende lässt sich zunächst ein Blatt Papier mit Reißzwecken an der Wand neben den Blättern anderer befestigen. Es gibt 18 Farbtöpfe, jede Farbe hat ihre eigenen Pinsel, drei in unterschiedlicher Stärke.
Jeder malt auf seine Weise, spontan, so wie es aus ihm fließt. So entspricht die Spur des Malenden seiner inneren Notwendigkeit.

Vom Blatt zum Palettentisch, vom Palettentisch zum Blatt.
Teil des Spiels ist das präzise Eintauchen, das Spontaneität erst ermöglicht.

Wieder spielen
„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns!“ Rumi
Mich wunderte es lange Zeit, immer wieder von Kindern zu hören: „Ich kann nicht malen“ oder „Ich weiß nicht, was ich malen soll!“. Zeichnen, Malen und Werken war ein so selbstverständlicher, wesentlicher und vor allem sorgloser Bestandteil meiner Kindheit. Eine Freundin aus der Schweiz erzählte mir vom Malort. Dort kämen nur die Malenden rein und keine Zuschauer. Die Kinder malen dort ohne Beurteilung und ohne Vorgaben. Das sprach mich sofort an und ich vertiefte mich in die Entdeckungen Arno Sterns.
Das fehlende Puzzleteil war gefunden. Plötzlich verstand ich alles, was ich vorher nur halb hatte sehen können. Es ging darum, das Malen von Kindern radikal als das zu verstehen, was es war und schon immer gewesen ist: nicht als orginelles Kunstwerk, sondern als Spiel! Seit Jahren erfahre ich, was geschieht, wenn Kinder – darunter Schüler aus den umliegenden Schulen – ihr Malspiel kontinuierlich fortsetzen können, ohne dass jemals jemand fragt: „Was malst du da?“ Dabei malen sie in Anwesenheit von Menschen jeden Alters. Das führt dazu, dass Wettbewerb und Vergleich weniger werden. Der Druck, etwas Besonderes sein zu müssen, fällt von den Kindern ab, sobald sie sich in ihr Spiel vertiefen.
Es gibt in jeder Stunde einen Moment, in dem sich über die gesamte Malgruppe konzentrierte Stille senkt, wenn jeder in seine Beschäftigung gefunden hat. Dies sind kostbare Momente, die ihre Wirkung ohne Worte und ohne Festhalten entfalten; die Bilder werden nicht mitgenommen, nicht gezeigt und im Malort archiviert. Die Kinder folgen dem, was sie begeistert. Und je länger sie kommen, desto intensiver widmen sie sich dem, was sie interessiert. Erfahrung und Wissen haben mein Vertrauen gestärkt, dass ich nicht eingreifen oder anregen muss. Ein Kind verwendet immer wieder Rottöne und Rotabstufungen aller Art, ein anderes malt über Wochen an einer Baustelle mit allen Einzelteilen vom Bagger bis zum Kran, wieder ein anderes, lässt seine gesamte Tier-Expertise einfließen und füllt seine Blätter mit Karawanen von Gefiedertem...Ein Junge, dem es anfangs schwer fiel, eine Stunde lang zu stehen beim Malen, füllt nach einem Jahr ‚freiwillig‘ eine Fläche von zwei Quadratmetern mit schwarzer Farbe, so dass ein Weltall mit Planeten entstehen kann. Wieder ein anderer klettert auf die Leiter, um mit dem grünen Pinsel seine Baumwipfel zu erreichen.
Im Malort ist genug Platz für die Abenteuer großer und kleiner Personen nebeneinander. Solche Erlebnisse wünsche ich jedem Kind!

Dienen
Jeder Mensch trägt die Fähigkeit zu spielen und seine Spur zu malen in sich. Dies ist in den Dokumenten Arno Sterns abzulesen. Das bewertungsfreie ‚Dienen‘ im Malort setzt dieses Wissen voraus. Es geschieht auf Augenhöhe und aus einer Haltung des Vertrauens heraus: Vertrauen ins Spiel, Vertrauen ins Kind.
Als ‚Dienende‘ bleibe ich ständig in Bewegung, versetze Reißzwecken, reiche Hocker und
Leitern an, fülle Farben und Wasser nach. So komme ich gar nicht in eine distanzierte, betrachtende, zuschauende Position. Schon den Jüngsten stelle ich hochwertiges Material zur Verfügung. Ich achte darauf, dass dieses von allen sorgfältig benutzt wird.
Ich rede weder über das Gemalte noch über Eigenheiten der Malenden. Ich nehme den Malspielenden viele Tätigkeiten ab, um ihr Spiel zu unterstützen und nicht, weil ich sie ihnen nicht zutraue. Ich bediene weder Ersatzhandlungen noch Besonders-Sein, sondern Bedürfnisse der Malenden. Ich halte mich an das, was sich spontan zeigt – das ist nicht unbedingt das Gewünschte oder das Vorgestellte.
Das Ringen um Aufmerksamkeit und Anerkennung oder der Wunsch etwas Besonderes zu sein, lenken vom Malspiel ab. Es dauert oft viele Monate – bei einer Malstunde pro Woche – bis Kinder zur Ruhe kommen und einfach spielen, ohne sich um die Meinung anderer zu kümmern. Erst dann stecken sich die Kinder gegenseitig – ohne besser als die anderen sein zu wollen – inspirierend an.

Bewertungsfrei heißt bewertungsfrei
Bewertungsfrei heißt bewertungsfrei - auch dann, wenn ein Kind auf dem Papier monatelang Häuser brennen, Flugzeuge abstürzen, Drachen kämpfen, Figuren schießen lässt und gern mit Schwarz malt...
All das bleibt unkommentiert, während Abenteuer um Abenteuer geschieht.

Aufbewahren der Bilder
Nach der Malstunde unbeschwert rausgehen aus dem Malort, nichts einpacken, nichts
verstauen oder tragen müssen, nichts herzeigen, nichts erklären, nichts überdenken.
Ein Thema, das immer wieder aneckt oder auf Unverständnis stößt: Was hat es damit auf sich, dass die gemalten Bilder im Malort bleiben und später auch nur dort noch einmal angesehen werden können?
Ich erfuhr und erlebe es immer wieder im Malort: Dann, wenn die Bilder nicht mitgenommen werden, steht mit aller Konsequenz das Erlebnis (nicht das Ergebnis oder Werk) im Vordergrund.
Dann kann jede Person sich trauen zu malen, gerade auch, wenn die Sorge besteht, nicht malen zu können. Dann kann sich jeder ganz und gar dem Tun hingeben, ohne über eine (beeindruckende) Wirkung zu spekulieren.
Jede Person kann sich erfahren, mit ihren Vorlieben und mit dem, was sie begeistert, ohne darüber nachzudenken wie das in den Augen anderer oder in den eigenen Augen aussieht.

Wissenschaftliche Begleitstudie (2016-19)
Das Modellprojekt „schreib.mal.spiel“ des Malort e.V. wurde von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW für 3 Jahre gefördert. In diesem Zeitraum wurden das Mal- und das Schreibspiel wissenschaftlich begleitet.
Das Team der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, bestehend aus Frau Prof. Dr. Ursula Stenger und Simon Streiffels M.A. untersuchte, ob und wie das bewertungsfreie Spiel im Mal- und Schreibort dazu führen kann, dass Grundschulkinder mit Aufmerksamkeits- bzw. Konzentrationsproblemen in aufmerksame bzw. konzentrierte Phasen gelangen.
Die responsiv ausgerichtete Evaluationsstudie (phänomenologische Orientierung) war auf folgende Fragestellungen fokussiert:
1. Welche Prozesse und Faktoren begünstigen eine konzentrierte Tätigkeit bzw. sind aufmerksamkeitsfördernd?
2. Welche Strategien und Fähigkeiten entwickeln Kinder, die ihnen auch in anderen Lebenskontexten ein aufmerksames bzw. konzentriertes Handeln ermöglichen?
Den Dokumentarfilm zum „schreib.mal.spiel“ finden Sie hier: https://www.youtube.com/watch?v=VUqFlB0xRnk&t=1539s
Texte soweit nicht anderes angegeben von Frauke Ratzke, 2019
Aus dem Heft zum Modellprojekt schreib.mal.spiel
Herausgegeben von:
Der Malort e.V.
Der Malort e.V. wurde 2013 als gemeinnützige Organisation gegründet.
Er trägt sich aus Spenden, Mitgliederbeiträgen und Kurseinnahmen.*
Er ist Mitglied beim Paritätischen Wohlfahrtsverband.* (*Anmerkung 2025: Der Verein wurde zu Ende 2021 Corona bedingt aufgelöst)
Redaktion, Texte und Fotos:
Gino Grimaldi, Armin Kaster, Frauke Ratzke, Simon Streiffels
Grafische Gestaltung:
Carsten Tiemessen, Düsseldorf
Druck:
Laser-Line, Berlin
Kontakt:
Gefördert durch: Stiftung Wohlfahrtspflege NRW







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